DEUTSCHLAND NEU DENKEN - Acht Szenarien für unsere Zukunft
Rezension von Philipp Sonntag
Klaus Burmeister, Alexander Fink , Karlheinz Steinmüller, Beate Schulz-Montag:
DEUTSCHLAND NEU DENKEN - Acht Szenarien für unsere Zukunft;
oekom verlag, München, 2018; 24.- €; ISBN-13: 978-3-96238-018-2
Futurologen haben in den letzten Jahrzehnten professionelle Verfahren entwickelt, um Zukünfte zu ergründen, möglichst systematisch und interdisziplinär. Sie wissen, es gibt nicht die eine Zukunft, für die wir die passende Vorhersage suchen. Nein, was mit uns geschehen wird, hängt von unserem Verhalten ab. Vorläufig noch, es kann unumkehrbare Veränderungen geben, etwa wenn „der Golfstrom kippt“. Auf jeden Fall gibt es vielfältige Einflüsse und Wege in ganz unterschiedliche Zukünfte.
Was die Autoren bereitstellen, sind praktische „Landkarten“, in die solche Wege hinein führen können.
Die Autoren haben das Buch an 33 Spitzenpolitiker*innen in Berlin verschickt, darunter der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin, alle Bundesminister*innen und Fraktionschef*innen sowie die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien.. Wohl nicht zuletzt dafür haben sie sich auf Zukunft im nahen Jahr 2030 beschränkt und gehen von aktuellen Optionen aus, über die momentan entschieden wird. Und sie haben sich auf jene Einflussfaktoren konzentriert, für die man in Deutschland Optionen hat, Akzente zu setzen.
Beim Druck des Buches wussten sie noch nicht, wie stark die Klimaveränderungen in 2018 insgesamt sein würden. Aber sie wiesen „schon“ auf den „für ökologische Fragen und Wirkungen relativ kurzen Zeitraum bis 2030“ hin und betonten „die Bedeutung von Wirtschaftsinteressen in Relation zu Umwelt- und Naturschutzfragen“. Was sie mit dem „Projekt 2030“ offen anstreben, ist die Stärkung des politischen Bewusstseins für den Umgang mit den Herausforderungen – möglichst bevor es zu spät ist, bevor unumkehrbare, schädliche Entwicklungen unser Schicksal bestimmen.
Gezielt geht es um die politische Wahrnehmung von Faktoren, welche speziell in Deutschland zu beachten sind. Das ist trotz dieser Beschränkung keineswegs einfach. Ein Thema wie Aus- und Weiterbildung bewirkt vieles und wird vielfältig beeinflusst. Allein schon im Kontext der Digitalisierung ist es bei so einem Thema nicht einfach, fundiert zu ermitteln, was wodurch und wie gelingen bzw. misslingen kann.
Um das Buch grundlegend zu verstehen, braucht der Leser daher Disziplin, Geduld, ein gewisses Talent für interdisziplinäres Gespür und möglichst etwas Erfahrung mit systematischem Denken bis hin zum Umgang mit systemischen, vielfältig vernetzten Strukturen. Wer ist bereit, sich diese Mühe zu machen? Lässt sich die Mühe irgendwie vereinfachen?
Ja, es geht auch einfacher, zumindest in einen Einstieg in die Vernetzungen. Dafür möchte ich den gesellschaftlich Aktiven, denen solcherlei Systeme ein Gräuel sind, einen Trick verraten: Kreuzworträtsel sind mühsam, ähnlich Sudokus – da liegt nahe, „zu mogeln“, also wenn man nervös wird, „einfach“ bei den Auflösungen nachzuschauen. Dafür findet man im Buch wunderbare „Vernetzungs-Landkarten“, zum Beispiel ab Seite 231! Da wird auf einer Buch-Seite (!) jeweils eines der acht komplexen Szenarios dargestellt. Einladend ist zum Beispiel das Szenario „Wohlfühlwohlstand“, sprich Mensch und Wirtschaft geht es insgesamt relativ gut – aber indem man dies politisch gezielt anstrebt, gilt es mit Ambivalenzen umzugehen wie: „Erfolgreiche digitale Transformation fördert Zusammenhalt – aber Ende der Privatheit“. Ganz anders beim Szenario „Unaufhaltsamer Abstieg“, es zeigt, wie eine schlechte Koordination von schlechten Entscheidungen zu Problemen führen kann.
Wer sich das Buch ein paarmal unters Kopfkissen legt, wird nach und nach besser erahnen, wie bestimmte aktuelle Entscheidungen zu entsprechenden Szenarios im Jahr 2030 führen können. Das mag für moderne Politiker wissenswert sein, etwa für den Fall, dass bei einer eigenen Rede über Zukünfte mal jemand nachfragt. Da kann man polemischen, spontan unüberlegten Nachfragern geradezu professionell begegnen. Jeder versteht, zu schnelles „im Nebel auf Sicht fahren“ provoziert Unfälle. Da kann vieles schiefgehen, bis hin zu einem Auto das „ausgerechnet“ auf dünnes Eis eines Sees gefahren ist – beim langsam fahren bricht es ein. Für Umgang mit der komplexen Zukunft möchten wir wissen, wo wir sind und wenigstens ungefähr, was alles passieren kann.
Verträgt sich die Hoffnung auf praktische Hilfe mit der komplexen Struktur? Die Autoren beschreiben 33 Schlüsselfaktoren. Der Name besagt, dass diese politisch wichtig sind. So will man wissen, was die „Digitalisierung der Wirtschaft“ beeinflusst. Sowohl passiv: „Was wirkt auf die Digitalisierung?“, also: „Wie kommt sie durch verschiedene Einwirkungen und unsere Einwirkungen daraus zustande?“, als auch aktiv: „Was alles verursacht eine bestimmte Art, ein bestimmtes Ausmaß an Digitalisierung im Umfeld“, sprich wie wirkt sie auf „alles andere“?
Indem jeder der 33 Schlüsselfaktoren qualitativ und quantitativ verschiedene Ausprägunge haben kann, resultieren aus der Kombination dieser Faktoren Trilliarden von Zukunftsprojektionen. Was nun das „Zukunftsgespür“ der Autoren auszeichnet, ist die Herauskristallisierung von 149 in der Realität einigermaßen vorstellbaren Zukunftsprojektionen. Sie tun dies, aus der Beobachtung heraus, welche bedeutenden Wechselwirkungen durch „Hebelkräfte“ es gibt, sprich was wirkt auf was besonders stark? Aus den 149 Zukunftsprojektionen heraus wählen die Autoren schließlich ihre acht besonders gut nachvollziehbaren Szenarios. Für jedes von ihnen gibt es ab Seite 231 je eine Seite, eine Art „Spickzettel“ für politische Reden und praktische Entscheidungen, deren Zustandekommen jeweils auf ein paar Seiten davor veranschaulicht wird.
Für weitere Bücher: Interessant könnte ein Projekt wie „Zukunft in 2060“ sein. Da würde womöglich weniger zwischen Auto und Bus, weniger zwischen Indiviual- und Kollektiv-Verkehr unterschieden. Stattdessen würde weitreichender die Frage gestellt: Muss man überhaupt so viele Menschen und sonstiges von A nach B transportieren? Um die gigantische Mobilität zu verringern, wie lässt sich dafür die Telepräsenz verbessern, etwa beim Handwerk? Wird der kleine flinke Handwerks-Roboter den Führerschein haben, „natürlich“ nach erfolgreicher Tele-Charakter-Prüfung? Wird er mit wenig Material, leichten Werkzeugen, wenig Energie auskommen?
Wie weit kommt man zu erträglicher bis erwünschter Mobilitätsvermeidung mit Modernisierungen von Skype, mit überzeugendem Gelingen körperloser Nähe wie bei Tele-Medizin bis hin zu Tele-Sex, mit mehr lokaler Landwirtschaft, mit hoch-flexiblen Infrastrukturen usw.? Wie weit wird die KE (Künstliche Emotion) bis hin zur „künstlichen Identität“ (nächste Stufe nach „KI“) überzeugend und sozial hilfreich sein? Viele Menschen beklagen längst eine Art „Tele-Einsamkeit“. Was für neue Optionen können Futurologen für 2060 jetzt „schon“ erahnen? Was für aktuelle Weichenstellungen können sie bereits für jetzt empfehlen?
Den AutorInnen für das Projekt 2030 waren Utopien bis hin zu Science-Fiction keineswegs fremd. Ähnlich sind Schülern und Studenten 2018 systematische Recherchen und Computerspiele keineswegs fremd. In jeder Schule können Zukunftswerkstätten, wie von Robert Jungk erprobt, durch Schüler digital (Dokumentationen mit Bildern und Videos, Vernetzungs-Strukturen, auf lokale Faktoren orientierte Computerspiele usw.), angereichert werden. Soweit es (noch) Lehrer gibt, die dadurch irritiert werden, dann mag hilfreich sein, dass die Schüler solchen Lehrern das Buch geben. Zusammen können Schüler und Lehrer mit dem Buch leicht einen Test der Zukunfts-Fähigkeit“ entwerfen, den sie an ihr Kultusministerium senden, Motto wie haltet ihr es mit „Deutschland Neu Denken“?
Bei dem Szenarioprojekt, das dem Buch zugrunde liegt, handelt es sich um ein partizipatives Open Source-Projekt, siehe die Website www.d2030.de. Interessierte finden dort umfassende Hintergrundinformationen und Materialien sowohl zur Initiative D2030 als auch zum Szenarioprozess.