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Wie hat die Menschheit noch eine Chance – mit Vertrauensbildenden Maßnahmen?

von Philipp Sonntag / www.philipp-sonntag.de

Für diesen Text habe ich neben eigenen persönlichen Betrachtungen vor allem folgende Schriften zu Rate gezogen:

  • Aktionszentrum Dritte Welt e. V., informationszentrum 3. Welt, Heft März/April 2022:
    Verbrechen lohnt sich – Rackets und Bandenherrschaft, siehe auch www.iz3w.org
  • Bernhard Bogerts: Woher kommt Gewalt? Von Neurowissenschaft bis Soziologie – eine mehrdimensionale Betrachtung. Springer Verlag-Berlin (2021)
  • Ernst Ulrich von Weizsäcker: SO REICHT DAS NICHT! Außenpolitik, neue Ökonomie, neue Aufklärung – Was die Klimakrise jetzt wirklich braucht. Bonifatius Verlag, Paderborn, (2022)
  • Rolf Kreibich: Die Menschheit zukunftsfähig machen. Plädoyer für eine zweite Aufklärung und Nachhaltige Entwicklung. Noel Verlag, (2021), 368 S.

Noch nie durfte ich ein bedingungsloses Vertrauen zu mir haben. Eindrücke von erlittener, auch drohender Gewalt bewirkten in mir Reaktionen, die mein Selbstbild verletzten. Immer wieder überraschten mich eigene Wutanfälle in Richtung emotional wilder Gegengewalt und hoher Eskalationsbereitschaft.

Da hatte mich in der Dunkelheit ein Hund angebellt – und sollte ich den erwischen, dann her mit der Peitsche! Ich bellte immerhin laut zurück, nun ja, es gelang mir, ihn zu erschrecken, und so begann ich, mich rasch zu besänftigen. Dann störte mich eine penetrante Werbung – gut, dass ich in keinem kampfbereiten Panzer saß, ich hatte nämlich so einen Reflex in mir, die Fabrik des Anbieters zu zerfetzen. Zunächst war mir ein wenig mulmig, doch schon nach Sekunden half mir meine immer abrufbare Voreinstellung:

„Wenn blöde Werbung nervt, dann werde ich von dieser Firma nichts kaufen!“

Diese Absicht könnte eine breite Bewegung werden, ich empfehle: Macht alle mit! Gegen Willkür helfen solche (nahezu) bedingungslosen Voreinstellungen. Bereits ein paar mich provozierende Sekunden genügen nämlich, schon alarmiert mich etwas, mitten aus mir heraus, zur Einsatzbereitschaft. Dann spüre ich meine zähneknirschende Aggression. Indem ich mich rasch besänftige, bemerke ich ein leises, sogleich vorübergehendes Gefühl von Feigheit. Diesen so leicht abrufbaren Reflex in mir weise ich zurück, denn mutiger und besser erscheint mir: cool und doch tatkräftig sein!

Das soll leicht fallen, denn schon im Vorschulalter wird spontan die Rücksichtnahme miteinander trainiert, am besten mit pädagogisch guter Unterstützung. Jetzt, im Alter von 83 Jahren bin ich immer noch alarmbereit. Mit starker Absicht finde ich zumeist rasch zu ruhiger Entschlossenheit.

Was hilft, ist meine nüchterne Voreinstellung. Jegliche wuterfüllte Oberaffenspielchen dauern mir sowieso zu lange. Da gefällt mir, wie so manche Künstler ähnliche Voreinstellungen auch rasch zur Hand haben: Vorahnungen deuten auf ausufernde Risiken, die „verdammt real“ sein können, auch wenn erst mal wenig passiert.

Vor hundert Jahren waren die Vorahnungen von Ossietsky, Tucholsky und vielen weiteren Literaten über die Kriegsgefahr durchaus prophetisch. Sie plagten sich nicht mit Zweifeln oder gar Wissenschaft. Sie wussten, diese Menschheit ist in einer Vorstufe von Zivilisation.

1957, ein Jahr vor meinem Abitur, hatte ich die zu dieser Vorstufe gehörende Unruhe, mit wirren bis irren Impulsen was ich tun könnte, vielleicht sollte, womöglich sogar selbst versuchen möchte. Ich hatte wenig Ahnung. Mich freute und ärgerte die Richtlinie von Karl Valentin:

„Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“
Also doch? Eines war mir, allein schon zur „Ich-Findung“, wichtig. Ich entwickelte das Cayenne, mein kybernetisch-neurobiologisches Modell des menschlichen Denkens (heute: KI):

https://www.philipp-sonntag.de/files/Cayenne2020.pdf

Klar wurde mir damit bald, ich muss all die „tierischen“ Reflexe – wie zur Gewalt – übergreifen, und in den Griff bekommen. Aber wie? Ich schwärmte erst mal vom guten Willen, vom Wohlwollen, versuchsweise schon mal von einer Art Matriarchat. Da war ich weit entfernt von den üblichen kalten und heißen Kriegern. Ich schwelgte in Utopien, suchte mein kleines „richtiges Leben mitten im falschen“.

Und doch drohte mir Resignation. Wo bleibt, um Hölderlin kurz zu erinnern, das so genannte Rettende? Ein erster Schritt kann gelingen, indem der Mensch sich eingesteht, dass seine Vorstufe von Zivilisation auf einer Fahrlässigkeit mit allzu tierischen Reflexen beruht. Es gilt, bessere menschliche Reflexe zu schaffen und miteinander zu integrieren.

Ich kann drei – geistig junge, gut verständliche – Bereiche von vertrauensbildender Orientierung nennen, die eine vorsichtige Hoffnung ausstrahlen:

1. Die gewaltige Herausforderung

Noch sind die meisten tierischen Gesellschaften – soweit in ihrem gewohnten Umfeld – zumeist besser geordnet, und daher weniger systematisch schädlich, als die menschlichen. Der Mensch hat es schwerer, er ist nie in seinem genetisch erwarteten Umfeld. So gibt es weltweit viele Klagen. Das gilt besonders, wo dem Mensch sein demokratisch angedachter „Rechtsstaat“ noch als ein künstliches Gebilde erscheint. Er versäumt, seine Demokratie und seine ökologischen Lebensgrundlagen angemessen stark und sichtbar zähnefletschend zu verteidigen. In vielen Staaten gibt es daraufhin de facto eine Bandenherrschaft, gemäß dem Begriff „racket“1:

„Racketeering (engl. racket „Gaunerei“, „illegales Geschäft“) umfasst als kriminologischer Begriff insbesondere in den USA illegale Formen der Geschäftsführung, die als Teil der organisierten Kriminalität aufzufassen sind. Ursprünglich bezog sich der Begriff racket vor allem auf Schutzgelderpressung (protection racket). Ab etwa 1850 wurden damit insbesondere durch das Bandenwesen in den Five Points in Manhattan von New York City auch andere Aktivitäten beschrieben, die organisiert oder bereits größtenteils auch bandenmäßig betrieben wurden, wie z. B. illegale Glücksspiele und insbesondere die Straßenlotterie (number games), die als number racket bezeichnet wurde.“ …

„In Deutschland wurde der Begriff Racket als von Max Horkheimer et al. geprägter Fachbegriff der Soziologie für Banden oder Cliquen verwendet, die sich beim Zerfall der staatlichen Ordnung bilden, mit der aus dem Englischen übernommenen Bedeutung „kriminelle Vereinigung“ oder „Teilunternehmung einer Verbrecherorganisation“.

Global ist in vielen Nationen die Regierung selbst eine Bande, oder selbst von Banden geduldet, oder beides zugleich, wie in Afghanistan. Wobei Staatsterror meist wirkungsvoller ist, als privater Terror – oft verbindet sich auch hier beides. In einem Heft von iz3w werden Ursachen und Folgen solcher Verhältnisse so klar, so in sich schlüssig dargestellt, wie kaum je zuvor2, mit einem Fazit von Winfried Rust auf Seite 18:

„Kriminelle Banden haben Konjunktur, sie entstehen im Vakuum der krisenhaften ökonomischen Umbrüche. In diesen kann der Illegale Beutezug die plausible Option sein, um ein bescheidenes Auskommen zu erlangen. Oder ein unbescheidenes. Oder um Allmachtphantasien auszuleben. Die Bande ist ein Spiegelbild der kaputten Welt, die sie hervorbringt.“

Ein Machtvakuum bleibt nicht unbesetzt. Auch bei uns in Deutschland. Behörden können manchmal die kriminellen Clans nur mit Mühe verfolgen und stellen, ein Beispiel3:

„Männer aus drei Großfamilien importieren Gebrauchtwagen. Hochwertige Modelle, die sie günstig, aber profitabel verkaufen. Nur der Staat wird dabei abgezockt. Ein Zufall ließ sie auffliegen. Wie es ein fast unbekanntes Clan- Netzwerk zu Millionen brachte“ und

„Vor zwei Jahren wurde ein mutmaßlicher Kurier mit 800 000 Euro erwischt, mit denen er in den Libanon fliegen wollte. Tausende 50er-, 100er- und 200er- Scheine waren in Lebensmittelpackungen versteckt.

Der wegen kleiner Delikte aktenkundige Berliner gehörte zum Umfeld dreier Clans: Die Großfamilien E., M., A. verdienten – zumindest zuletzt – nicht an Drogen, Raub, Schutzgeld, sondern an Gebrauchtwagen. Geldwäsche-Ermittler übernahmen den Fall.“

Für die deutsche Politik ist die starke Entwicklung eine Herausforderung. Einen Überblick zum Umgang mit Gewalt und sozialer Willkür bietet das aktuelle Heft des WZB, indem es sich bei aller Datenvielfalt auf den zentralen Begriff „Vertrauen“ fokussiert, so in den einführenden Sätzen der Leiterin Jutta Allmendinger4:

Gute Politik ist evidenzbasiert. Sie berücksichtigt den Forschungsstand und prüft, ob Maßnahmen Wirkung zeigen. Für diesen Wissenstransfer gibt es verschiedene Wege. Einer davon sind unabhängige Kommissionen, in denen Expertinnen und Experten Empfehlungen erarbeiten, politische Reformen evaluieren. … Damit das Zusammenspiel zwischen Kommission, Politik und Öffentlichkeit gelingt, ist eines zentral: Vertrauen.“

Weltweit fehlt vielfach schon in den strategischen Überlegungen, und erst recht in der praktischen Politik eine angemessene Orientierung in Richtung Vertrauen. Russland hat im Warschauer Pakt versäumt, ehrlich faire, vertrauensbildende Maßnahmen zu den osteuropäischen Staaten zu entwickeln und zu erproben. Stattdessen erntet Putin jetzt Erbitterung. Xi Ping hat versäumt, vertrauensbildende Maßnahmen zu Hongkong, zu den Uiguren aufzubauen, so wehrt sich Taiwan gegen eine Übernahme. Beide Aussagen klingen für eine vorläufige Zukunft noch ungewohnt – aber grundlegende vertrauensbildende Maßnahmen würden tatsächlich faire Kooperationen aufbauen und wären weit billiger, zivilisierter und risikofreier, als Krieg.

Also doch Pazifismus? Ja, aber wie? Bedingungsloses Vertrauen scheitert. Bedingtes Resignieren ebenso. Zur Orientierung: Trotz enormer Mühe geht es immer um ein „bedingungslos gemeinsam“ anzustrebendes Vertrauen. Das ist die Bedingung einer Aussicht auf Überleben.

2. Die umfassende Selbsterkenntnis

Eigentlich ist all die globale Gewalt und Willkür schier unfassbar. Das ist seit Jahrhunderten bekannt – allerdings zu oft nicht den Kultusministerien. In einem Physik Lehrbuch5 wirken Atombomben wie ein Lego-Spiel, andere Bomben, sogar Explosionen, sind unbekannt. Worte und Bücher über Begriffe wie Abolitionismus6 (Abschaffung der Sklaverei – mit der historischen Entwicklung bis hin zu aktuellen Formen von Ausbeutung) sind etlichen Kultusministerien womöglich völlig fremd. Dabei geht es um die globalen Lebens-Umstände der Armen, die für jegliche echte Zivilisation unerträglich, weil erkennbar vermeidbar sind.

Die Frage dazu ist, was der Mensch erst noch lernen muss, damit er sich und sein Umfeld zielführend beeinflussen kann? Dafür gibt es eine Fülle von speziellen Daten. Aktuell und hilfreich ist ein Buch, welches die Vielfalt gleichwertig nebeneinander stellt und integriert. Da geht es um das sich selbst steuernde Lebewesen Mensch. In dem Buch des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Bernhard Bogerts, werden dafür Erkenntnisse aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen integriert7.

Zu den thematischen Schwerpunkten im Buch zählen Bereiche wie Hirnstruktur, Alkohol, der Unterschied zwischen Amok und Terror. Insbesondere gibt es Kapitelüberschriften wie:

  • Vorkommen, Häufigkeit und Folgen von Gewalt
  • Warum gehört Gewaltneigung zu den menschlichen Eigenschaften?
  • Neurobiologie der Gewalt
  • Bedeutung von Hormonen und Botenstoffen des Gehirns
  • Psychische Störungen und Gewaltneigung
  • Kollektive Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Pogrome, Völkermord
  • Gewalt bei Kindern und Jugendlichen – frühe Risikofaktoren.

Letzteres ist der Schlüssel für grundlegende Veränderungen, weil in den Kindern deren lebenslanges Verhalten geprägt wird. Die Folge, all die genannten gewaltigen Herausforderungen, all die eigentlich vermeidbaren Diktatoren und Diktaturen erschweren eine Lösung des Problems. Die übliche Selbstzerstörung der eigenen Bevölkerung ist sehr teuer und existenziell bedrohlich.

Indem das Buch von Bogerts die Verkettung unglücklicher Umstände verständlich macht, ist ein erster Schritt zur Verbesserung getan. Für jede/n Menschen gilt: Am besten, man wundert sich nicht mehr über all die zähneknirschend tierischen Reflexe, über die scheinbar eigenen Impulse. Jede/r könnte sich solche Reflexe „zu eigen machen“, aber jede/r kann sie auch zurückweisen.

Für das Überleben braucht die Menschheit eine bedingungslose Ehrlichkeit: Was bisher als eine zynische Betrachtung gelten konnte, muss jetzt ernst genommen werden: All die diktatorischen, zum Beispiel leichtfertig zur Gewalt bereiten rechtspopulistischen Reflexe, beruhen auf Reptil-Gehirnstrukturen, die aus uralten Affenbis Krokodil-Horden bis mitten ins menschliche Gehirn gelangt sind, die also mitten im menschlichen Gehirn ihre Impulse feuern. Wer sich hemmungslos in seinem Reptil-Dasein aalt, ist strukturell unfähig auch nur jene Art von Zivilisation zu erreichen, welche das funktionsfähige Niveau vieler Tiergesellschaften auszeichnet. Zum Trost für alle, die sich wegen der eigenen Beherrschung ihrer stark reptilgeprägten Anteile beunruhigen: Affen und Krokodile wäre völlig hilflos und würden durchdrehen, wenn sie in derart engen und für sie chaotisch anmutenden Gesellschaften leben müssten, wie wir Menschen.

3. Der Zusammenklang von Instrumenten.

Im Chaos von Klimaveränderungen und Gewalttaten 2020-2022 ist es schwer möglich, sich einen Überblick für die wichtigsten Aktionen zu verschaffen. Das gilt für Wissenschaftler, Politiker, im Grunde für alle vom Chaos Betroffenen – und vermutlich am stärksten für die Verursacher.

Eine faszinierende Orientierung zu Gefahren und Optionen gibt Ernst Ulrich von Weizsäcker, wobei er die Bedeutung der Biodiversität (biologische Vielfalt) besonders betont8. Sein Fazit „So reicht das nicht“ zeigt, wie grundlegend die durchgreifenden Maßnahmen sein müssen und wie sehr es auf eine überlebensspendende Integration der wichtigsten Maßnahmen ankommt. Das ist die aktuelle Herausforderung vor dem Hintergrund der sehr gespaltenen Menschheit. Wir gehen auf mehrere Katastrophen zu, die öffentlich zumeist nur je für sich diskutiert werden, obwohl sie einander stark wechselseitig bedingen und verschlimmern.

Im Grunde ermöglicht seine präzise Übersicht der Größenordnung der wichtigsten Probleme überhaupt erst, diese politisch im Zusammenhang zu diskutieren. Wie Dürre und Hitze einander verstärken, muss man wissen, um diskutieren zu können. Wenn die Geburtenrate von durchschnittlich 3,2 Kindern pro Frau auf heute 2,3 gesunken ist, dann ist dies ein ungeahnter Fortschritt, aber zu wenig (S. 65).

Würden wir in Deutschland die Autos, welche fossile Energie nutzen, weitgehend durch E-Autos ersetzen, dann sähen wir zwar unschuldig aus – wir hätten aber sträflich versäumt den Entwicklungsländern entschlossen, opferbereit und grundlegend zu helfen. Indem wir dies versäumen, gehen auch wir auf jene Klimakatastrophen zu, die auch uns vernichten können (S. 110 ff).

Immerhin, indem wir versuchen, einen „klimaneutralen Verbrenner“ herzustellen, auch mit nachwachsenden Rohstoffen, könnten wir global wertvolle Optionen signalisieren. Ansonsten würden von den global über eine Milliarde Verbrenner- Autos wohl nur wenige abgeschafft, durch Verzicht oder E-Autos: „Man muss schon sehr optimistisch sein, wenn man das 20 Prozent der Eigentümer weltweit zutraut, selbst wenn es in Deutschland durch gesetzliche Vorschriften 100 Prozent werden sollten.“ (S. 106).

Das wäre eigentlich ein Hinweis, politisch weitaus stärkere Maßnahmen durchzusetzen. Das Buch ist seriös, sprich wissenschaftlich vorsichtig, dabei in den Anforderungen klar und entschieden. Als Fazit passt der ehrliche Buchtitel: „So reicht das nicht!“. Aber wer kann diese Anregungen wirklich wirkungsvoll aufgreifen?

Zum Dilemma: Wissenschaftler müssen „seriös“ sein, immer vorsichtig, sie dürfen nicht dramatisieren. Politiker – in Demokratien und Diktaturen – müssen „seriös“ die lokalen, z.B. nationalen Vorteile bedienen, anstatt global zu denken. Global reden dürfen sie, soweit klar ist, dass sie dafür wenig tun. Bezahlt wird nämlich bürokratisch eifrig die teure „chronische Linderung von Symptomen“. Das gilt auch noch nach Katastrophen: da gibt es Gedenktage wie zum Holocaust, aber würden die Politiker tun, was sie dort beschwören, sähe etliche Wiedergutmachung völlig anders aus, grundlegend ebenso, wie in Details9.

Es wird ein Ausmaß von Katastrophen geben, während denen man Grundlagen offen diskutieren wird. Da wird es dann endlich bis hin zu alternativen Details gehen, wie: Muss denn jeder geradezu beliebig weit von A nach B fahren können? Könnte man womöglich bei einem Überangebot an Arbeitsplätzen (wie derzeit) sich leichter in der Nähe eine Arbeit suchen? Könnte man dafür bei Pkw die km-Entfernung für höhere Steuern anstatt für Steuerersparnis nutzen? Wie ließe sich das Ganze sozial abfedern, wie schon beim bedingungslosen Grundeinkommen andiskutiert?

Studien mit solchen Themen kann man bisher zumeist nur privat finanzieren, öffentliche Förderung ist zu gering. Immerhin, steht privat ein praxis-erfahrener Aktivist dahinter, können Überlegungen und Erprobungen sogar besonders überzeugend werden, so für das Grundeinkommen10. Ähnliches gilt für viele ökologisch wertvolle Erfahrungen zur Biodiversität und nachhaltigen Agrarwirtschaft. Für eine neue Orientierung von staatlichen Forschungsschwerpunkten gibt es längst gut erprobte Versuche und Studien. Was fehlt, worum es aber beim Überleben geht, ist eine verträgliche und doch entschiedene, im Kern bedingungslose Zivilisation.

Wie kann es sein, dass wir „sehenden Auges“ in mehrere Katastrophen hinein schlittern? An so ein Verhalten hat sich der Mensch geradezu gewöhnt. Fast jeder zweite Krebstod beruht auf vermeidbaren Einflüssen, wie ungesundem Lebenswandel11. Der Mensch kennt die zugehörigen Leiden, wie bei Krankheiten oder bei kollektiven Anfällen von Gewalt. Letzteres zeigen klare Darstellungen über die Schrecken des Krieges, beispielsweise in der vor über 2.400 Jahren durch Thukydides, der über den Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta berichtete. Ein weiteres Beispiel ist der von Erich Maria Remarque 1928 veröffentlichte Roman „Im Westen nichts Neues“, in dem er über die Schrecken des Ersten Weltkrieges aus der Sicht eines jungen Soldaten berichtet. Ähnliches zeigen aktuell schier endlos drastisch-realistische Hefte von iz3w über globale Schandtaten.

Haben wir ein „Gewohnheitsrecht“, welches de facto jedes offiziell gültige Recht brechen kann? Immerhin gibt es neuerdings viele Bücher, die „erklären“ wie seltsam Menschen sein können, so von Joseph Henrich12 und von Wendy Wood13, auch als kostenloses Hörbuch auf Deutsch. Bei beiden Büchern geht es durchaus mit darum, wie „ich mich als Mensch ändern“ kann.

Bedingungslose Opferbereitschaft und krasser Verzicht sind keineswegs gefordert – kameradschaftliche Fürsorge wäre genug. Würde diese Woche angefangen eine bedingungslose Nächstenliebe (Liebe wie zu sich selbst!) wirklich zu leben, dann wäre nächste Woche der Kapitalismus erledigt und die Woche drauf würden wir unsere Vorstufe von Zivilisation verlassen.

Transgalaktisch mag es Zivilisationen geben, die schon mehr als eine Million Jahre friedlich sind. Wie eine innovative Zivilisation auch auf dem Planeten Erde entspannt möglich sein kann, das zeigen zum Beispiel die Insekten, die sich zusammen mit Blüten von Pflanzen entwickelt haben.

Allerdings hat diese Entwicklung etliche Millionen Jahre gedauert. Soviel Zeit haben wir Menschen nicht. Was helfen kann: Am stärksten ungeduldig sind unsere Jugendlichen. Sie sind bereit, sich selbst enorm zu motivieren. Ohne brauchbare Motivation gilt: Die übliche Erziehung ist eine Zumutung, Resignation verbreitet anzutreffen. Es fehlt an konkreter Orientierung, um Vertrauen für eigene Initiativen zu wecken. Am besten geben wir in den Schulen eine starke Unterstützung für Jugendliche, sich selbst zu erziehen. Dazu bestens geeignet ist das neue Buch von Rolf Kreibich. Er ist ein pragmatisch interdisziplinär erprobter Sachkundiger, der eine breite detaillierte Übersicht anschaulich vermittelt14. Der Noel Verlag hat das Buch gut gestaltet. Jede/r findet etwas, was sie/er tun kann.

Meine Empfehlung ist, Noel möge einem etablierten Schulbuchverlag ein Copyright zum Drucklizenz geben, und vielleicht noch eine Anreicherung mit Bildern, Tabellen usw. zulassen. Fast jede Seite des Buches würde Jugendlichen genug Anregungen für einen Schulaufsatz und/oder Projekte geben, um Begriffe recherchierend zu vertiefen, um technische und wirtschaftliche Sachverhalte, zugleich gesellschaftliche Bedingungen nachzuforschen und Lösungen in Schulklassen zu diskutieren. Für Lehrer wäre es eine angemessene Herausforderung, um die Schüler begleiten zu können. Die praktisch erprobte Zukunftswerkstatt15 ist geeignet, damit Schüler und Lehrer ihre Thematiken in ihrem Umfeld öffentlich diskutieren können.

Allein schon für die Orientierung der Jugendlichen, in Richtung einer durch eigene Initiative erreichbaren Zukunftsfähigkeit, kann das Buch von Rolf Kreibich Vertrauen aufbauen. Als Mensch kann frau/man sich zukunftsfähig machen!

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Racketeering
2 Aktionszentrum Dritte Welt e. V., informationszentrum 3. Welt, Heft März/April 2022: Verbrechen
lohnt sich – Rackets und Bandenherrschaft, siehe auch www.iz3w.org
3 Pascal Bartosz: Die Steuertricks der Clans. In: Tagesspiegel, vom 18.08.2022, S.3
4 Jutta Allmendinger: Wissen verantworten. In: WZB Mitteilungen vom Juni 2022, S. 3
5 Duden: Physik. Basiswissen Schule / 5. Bis 10. Klasse. (2021)
6 Abolitionismus – Ein Reader, Hrsg. Daniel Loick und Vanessa E. Thompson. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2364, (2022), 619 S.
7 Bernhard Bogerts: Woher kommt Gewalt? Von Neurowissenschaft bis Soziologie – eine mehrdimensionale Betrachtung. Springer Verlag-Berlin (2021).
8 Ernst Ulrich von Weizsäcker: SO REICHT DAS NICHT! Außenpolitik, neue Ökonomie, neue Aufklärung – Was die Klimakrise jetzt wirklich braucht. Bonifatius Verlag, Paderborn, (2022).
9 Philipp Sonntag: Forever Alert - German Child Survivors in Action Before 1945 and Beyond 2019. Beggerow Verlag, (2019). Und Philipp Sonntag: Wir Überlebende des Nazi-Terrors in Aktion, Verlag Hentrich und Hentrich (2017)
10 Götz W. Werner mit Claudia Cornelsen: Womit ich nie gerechnet habe / Die Autobiographie. List- Verlag. Insb. Kapitel 15 über das Grundeinkommen, S. 271-283
11 https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01430-1/fulltext
12 Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt – Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde. Suhrkamp (2022).
13 Wendy Wood: Good Habits, Bad Habits - Gewohnheiten für immer ändern Der erfolgreiche Ratgeber zur Persönlichkeitsentwicklung von der renommierten Professorin für Psychologie. Piper (2022).
14 Rolf Kreibich: Die Menschheit zukunftsfähig machen. Plädoyer für eine zweite Aufklärung und Nachhaltige Entwicklung. Noel Verlag, (2021), 368 S.
15 https://de.wikipedia.org/wiki/Zukunftswerkstatt

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